Tod in Berlin

21. Juli 2019 von KM

Bevor wir uns auf die Reise nach München begeben, erinnern wir an unseren Berliner Kollegen Micha, der am Steuer seines Taxis elendig verreckt ist.

Sommer 2014. Die Sonne steht tief, genau über dem Ende der Landstraße. Blendet fast. Gut, mal aus der Stadt rauszukommen. Dritter Auftrag heute nach Ahrensfelde, schöne Sache, 36 Euro. Noch 6,40 bis zum ersten Hunni, Reparatur ist fast bezahlt, noch 200 offen für die neue Lichtmaschine, war fällig, der 300er Diesel hat ja schon fast 400.000 runter, wird schon. Wer kommt heute nochmal ins Kastanien-Eck? Stimmt, Monika, die war Ärztin, muss die mal fragen, erstmal fahren, fünf Touren noch, dann ist Schluss. Schön der Blick übers Land, da hinten hatten wir doch mal das Haus, oder war das woanders? War vor dem Krieg. Jetzt mal konzentrieren. Die Straße hier geht nach, egal, irgendwann führen alle nach Berlin, rumpelt ganz schön. Wer ist das?

 Endlich hält der, vermutlich besoffen.
Der Beamte steigt aus der rechten Tür des Streifenwagen, um das Taxi zu kontrollieren, das ihm und seinem Kollegen aufgefallen war. Langsam und in Schlangenlinien war es die Birkholzer Chaussee entlanggerollt.
 Das sieht man hier manchmal, aber das sind sonst keine Taxis sondern besoffene Bauarbeiter, die zu spät aus der Kneipe getorkelt sind.

Das Taxi steht schräg, halb im Gras am Graben. Wäre da nicht das vom Regen gespülte Loch, würde es vermutlich weiter in den Straßengraben rollen.

 Der pennt ja. Hallo, öffnen sie mal die Tür.
Der Polizist klopft an die Scheibe. Der Fahrer schläft weiter. Der Polizist öffnet die Tür. Es stinkt, aber nicht nach Alkohol.
 Hallo, aufwachen.
Der Polizist rüttelt an der Schulter des Fahrers. Keine Reaktion. Atmet der? Kaum, nichts zu spüren. Kein Pulsunser
  Kollege, ruf mal den RTW, Notarzt, was Du kriegst. Ich versuche solange mal Wiederbelebung.

In Hannover schließt Finanzdezernentin Fischer eine Akte. Vierzehn Jahre zuvor hat sie als grüne Gesunheitsministerin das Gesetz verantwortet, mit dem privat Krankenversicherten über 55 die Rücḱkehr in die gesetzliche Versicherung endgültig versperrt wird, auch wenn sie verarmen und die Beiträge der privaten Versicherung nicht mehr zahlen können.

Über acht Jahre lang, von Juli 2000 bis zum 1.1.2009 gibt es für ältere verarmte Selbständige in Deutschland keine funktionierende Krankenversicherung. Nur wer den Sirenen der Privatisierung widerstanden hat, und als freiwillig Versicherter die teuren Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen gezahlt und dafür schlechtere Leistungen akzeptiert hat als bei den billigeren Privaten, soll noch Unterstützung von der Solidargemeinschaft erhalten. Das ist ein Hohn für kleine Selbständige. Die haben keine Wahl. Sie müssen jede mögliche Ersparnis zum Überleben nutzen. Selbst fahrende Taxiunternehmer sind im Vergleich zu anderen Sebständigen noch schlechter dran. Sie leben am unteren Ende der kapitalistischen Nahrungskette.

Die Geschichte fängt gut an. Kollege Micha profitiert von den ersten Auswirkungen der neoliberalen Wende ab 1980. Ein Berliner Unternehmer hat die Begrenzung der Taxikonzessionen weggeklagt, und Micha kann ein Taxi anmelden, ohne die Konzession teuer kaufen zu müssen. Er borgt sich Geld für das erste Auto, meldet es für eine kleine Bearbeitungsgebühr als Taxi an, und fängt an zu verdienen. Er ist jung, fit, hat BWL studiert und als Lohnbuchhalter gearbeitet. Jetzt teilt er sich sein Auto mit zwei Studenten, die nachts und am Wochenende fahren. Reich will er nicht werden, sondern Spaß am Leben haben, und soviel arbeiten, dass er in die Rentenversicherung einzahlen und sich auch sonst ein wenig absichern kann.

Bis 1989 geht das gut. Dann kündigen sich die ersten Probleme für Micha an.

Mit dem Ende der DDR ist auch Schluß mit der Berlinförderung. Sämtliche Industriebetriebe Ostberlins und viele im Westteil der Stadt schließen. Die Arbeitslosigkeit steigt und alle, die noch Geld haben sparen für die Not. Der kleine Alltagsluxus, verschlafen und dann mit dem Taxi zur Arbeit fahren, der wird gestrichen. Gleichzeitig haben tausende Migrantenkinder und entlassene Arbeiter aus Ost- und Westberlin die selbe Idee: Mit dem Taxi kann man immer Geld verdienen. Geld wird verdient, aber es geht 20 Jahre lang abwärts. Bis 2010 schrumpfen die stündlichen Umsätze pro Taxi auf ein Drittel und neue Sozialabgaben lassen weniger Netto vom Brutto übrig.

1995 pausiert Micha für ein Jahr. Eine Suffgeschichte, nichts Schlimmes, nur eine dumm gelaufene Kontrolle. Der Fehler kostet ihn den Führerschein und seine Ersparnisse. Bis 2005 kommt er weiter klar. Er arbeitet fleißig die Verluste auf und sucht nach neudenen Geschäftsideen. Micha wird klar, dass es im Taxi nie wieder besser wird. Im Grunde müßte er seinen Betrieb schließen und als Angestellter arbeiten, denn er schafft es kaum noch, die teure private Krankenversicherung und die Reparaturen des alten Daimlers zu zahlen.

Dann schlägt das Schicksal zu. Schwer verletzt überlebt Micha einen Mordanschlag. Nach Wochen im künstlichen Koma ist er nicht mehr der Selbe. Trotz Reha ist ihm alles mühsam, dennoch nimmt er seinen alten Vater bei sich auf, pflegt ihn, arbeitet, stellt wieder Fahrer ein, begräbt seinen Vater und verliert die Kontrolle. Micha kann die private Krankenversicherung nicht mehr bezahlen. Er ist über 55 Jahr alt und die Tür zur gesetzlichen Krankenkasse ist ihm versperrt. Er ist draussen, für ihn gibt es keinen Sozialstaat mehr. Krank darf er sich nicht versichern, genug Geld, um Ärzte selbst zu zahlen, kann er nicht verdienen. Das Taxigeschäft ist so gut wie tot.

Am 1. Januar 2009 kommt der Basistarif in der privaten Krankenversicherung. Die nächste Gesundheitsministerin hat schätzen lassen, dass es in Deutschland 300.000 nicht versicherte arme Selbständige wie Micha gibt. Den sozialen Sprengstoff gilt es zu entschärfen. Dabei müssen die privaten Versicherer vor dem Kostenrisiko geschützt werden, das Micha und seine Kollegen darstellen. Also ist der Basistarif teuer und bietet weniger als die gesetzlichen Kassen. Die privaten Versicherer tun alles, um möglichst wenige Verträge abschließen zu müssen, und man erlaubt ihnen, bei Erreichen einer Zahl von 100.000 Verträgen Kündigungen auszusprechen.

Ein Jahr nach Einführung des privaten Basistarifs gelingt es Micha einen Vertrag zu ergattern. Da hat er bereits jahre ohne Behandlung gelebt. 570 Euro soll er jeden Monat berappen. Dank Beratung durch Freunde darf er bald den ermäßigten Satz bezahlen.

Es ist zu spät. Die unbehandelten körperlichen und seelischen Folgen des Mordanschlags haben Michas Gesundheit aufgezehrt. Er lebt in der Sackgasse einer Arbeit, die ihn kaum ernährt, und darf immer noch nicht einfach zum Arzt gehen. Das erlaubt der Basistarif nicht. Nur wenige Ärzte akzeptieren die niedrigen Sätze, die im Basistarif erstattet werden. Zuzahlen kann Micha nichts.

Margret Thatcher: Wissen sie, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur Männer und Frauen, und es gibt Familien. Und keine Regierung kann irgendetwas erreichen ausser durch die Leute, und die Leute müssen sich zuerst um sich selber kümmern. Wir haben die Pflicht, uns um uns selber zu kümmern und erst danach zusätzlich um unsere Nachbarn.

In der Welt von Thatcher, Blair, Schröder und Fischer gibt keine Solidariät, nur Subsidiarität.

Micha stirbt. Nach einem Herzinfarkt am Steuer seines Taxis ist er so gut wie tot. Als er nach vielen Wochen das Krankenhaus verläßt ist er mit kaum mehr als 60 Jahren körperlich ein Greis von 90 und geistig im Zustand eines verängstigten Sechsjährigen. Nur die Bekannten aus der Stammkneipe erweisen sich als Freunde. Nach wenigen Monaten findet ihn seine Pflegerin leblos in seiner Wohnung.


Die Namen der Personen sind zum Teil erfunden, die wahren Namen sind der Redaktion bekannt.

Lizenz dieses Artikels und seiner Illustration: CC-BY-SA Erwünschte Zitierform: AG Taxi, Tod in Berlin, http://www.ag-taxi.de/todinberlin.html

Quellen

Logo und Illustration dieses Artikels: Eigenes Werk

Deutscher Bundestag - Gerhard Schröders Agenda gegen den Reformstau
https://www.bundestag.de/dokumente/...

Christoph Butterwegge, Gerhard Schröders Agenda 2010 Zehn Jahre unsoziale Politik
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analysen_Agenda.pdf

Agenda 2010 - Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_2010

Andrea Fischer (Politikerin, 1960) – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Andrea_Fischer_(Politikerin,_1960)

Andrea Fischer – Lobbypedia
https://lobbypedia.de/wiki/Andrea_Fischer

Dezernentin für Finanzen und Gebäude | Hannover.de
https://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Verwaltung...

Ulla Schmidt – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Ulla_Schmidt

Gesundheitsreform in Deutschland – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Gesundheitsreform...

2000: GKV-Gesundheitsreform 2000 | Gesetze | Hintergrund | AOK-Bundesverband
https://www.aok-bv.de/hintergrund/gesetze/index_15079.html

Basistarif der privaten Krankenversicherung ab 1. Januar 2009 – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Basistarif

Zahl der Hilfebedürftigen im Basistarif – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Basistarif#Zahl_der_Hilfe...

Der PKV-Basistarif: Holzklasse der Medizin
https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/krankenkasse...

So wechseln Sie zurück in die gesetzliche Krankenversicherung
https://www.krankenversicherung.net/rueckkehr-gesetzliche

Krankenversicherung - Kein Weg zurück - Stiftung Warentest
https://www.test.de/Krankenversicherung-Kein-Weg-zurueck-17499-0/

Scham für die Flugscham (über Thatcherismus)
https://www.heise.de/tp/features/Scham-fuer-die-Flugscham-4468093.html

Margaret Thatcher: a life in quotes | Politics | The Guardian
https://www.theguardian.com/politics/2013/apr/08/margaret-thatcher-quotes

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